Chinesische Visitenkarten – ein must-have oder nicht? (Teil 1)
„Du darfst auf keinen Fall deine Visitenkarten vergessen, wenn du nach China fliegst und wenn du dann da bist, übergib sie unbedingt mit beiden Händen!“
So oder so ähnlich liest sich die Zusammenfassung sehr vieler „Business in China“-Ratgeber. Stimmt das? Jein.
Beginnen wir mal so:
Die Visitenkarte war in China bis ca. 2012 wichtig. Seither verliert sie immer mehr an Bedeutung – WARUM?
Vor 2012 war die Visitenkarte so etwas wie der verlängerte Arm eines Chinesen. Man muss sich vorstellen, dass viele Chinesen beim ersten Kennenlernen ihren Namen nicht in den ersten Sätzen oder beim Handschütteln fallen lassen. Im Gegenteil. Ich kenne viele Chinesen – egal ob in Europa oder in China – die von ihren „guten Freunden“ (好朋友) sprechen, aber ihre wahren Namen nicht kennen. Das liegt daran, dass Chinesen oft Kosenamen für ihre Mitmenschen haben oder sie nach ihrer Berufsbezeichnung nennen, sollte diese ansehnlich sein. Was bedeutet das? Wie funktioniert das?
Ein Beispiel:
Frau Liya WANG hat eine entfernte jüngere Cousine, mit der sie in einer WG zusammenlebt. Die Cousine heißt Liping HUANG, doch Liya WANG nennt sie nur „mèimei“ (妹妹). Mèimei bedeutet jüngere Schwester und obwohl Liping HUANG nicht ihre leibliche Schwester ist, würde Liya sie trotzdem so rufen. Dasselbe gilt für jiějie (ältere Schwester), āyí (ältere Dame, Tante, Nanny, Haushaltshilfe), shūshu (allgemeine Anrede für ältere Herren). Einerseits praktisch, andererseits für Ohren in unseren Breitengraden ungewohnt und schon fast unhöflich: „Lehrer!“, rufen die chinesischen Kinder in der Schule. Ohne vorangestelltes „Herr“ oder „Frau“. „Fahrer, links abbiegen!“, im Taxi. „Kellnerin, noch ein Bier bitte!“, usw. usf.
Ihr chinesischer Mitarbeiter nennt Sie „Boss“?
Der Chef in einem chinesischen Unternehmen wird lǎobǎn gerufen. Die Übersetzung dafür ist Chef, Boss. Viele Abteilungsleiter europäischer Unternehmen finden es jedoch unangenehm, wenn die englische Übersetzung angewandt wird und man plötzlich beim Teamessen als „Hey, Boss!“ angesprochen wird. Z.B.: „Hey Boss, how many beer can you drink?“ (dazu mehr unter: „Das chinesische Geschäftsessen„).
Zurück zu den Visitenkarten:
Stellen Sie sich vor, Sie lernen jemanden auf Ihrer (Dienst-)Reise in China kennen. Sie plaudern gemütlich über das tolle Catering, den Flug nach China und das Wetter (Smalltalkthemen in China). Plötzlich gibt Ihr chinesischer Gesprächspartner Ihnen eine Visitenkarte. Seine Visitenkarte. Mit beiden Händen. Sie werfen einen Blick darauf und fühlen sich wie der größte Analphabet, da sie nichts lesen können (vorausgesetzt Ihr Chinesischniveau steckt noch in Abrahams Wurstkessel.)
Sie drehen die Visitenkarte vorsichtig um und sind erleichtert, denn auf der Rückseite befindet sich eine englische Version bzw. die englische Übersetzung! Überrascht stellen Sie fest, dass es sich bei Ihrem Gegenüber um Jack Ma handelt, dem Gründer von Alibaba! (Wer weiß schon, dass sein chinesischer Name Mǎ Yún lautet?!).
Er selbst hätte im Gespräch – wenn Sie ihn nicht ohnehin selbst erkannt hätten – nie erwähnt, wer er ist oder was er kann. Demnach ist es um so wichtiger, dass auf Visitenkarten lieber zu viele Infos stehen als zu wenig.
Must haves auf der Visitenkarte:
- Name: am besten den Familiennamen in Großbuchstaben
- Titel/Position
- Kontaktdaten
- Firmenlogo
Optional, aber sehr gern gesehen:
- QR-Code zum WeChat-Account
- Rückseite auf Chinesisch
- Jahreszahl der Unternehmensgründung
Der Chinese würde also beim Kennenlernen nicht mit der Tür ins Haus fallen (sowieso niemals), sondern subtil informieren.
Warum wird die Visitenkarte seit 2012 immer weniger wichtig?
2012 hat das chinesische Unternehmen Tencent die Kommunikationsapp WeChat auf den Markt gebracht. Wenn man heute jemanden kennenlernt, ins Gespräch kommt und gerne in Kontakt bleiben will, fragt man nach dem WeChat des Gesprächpartners. Man fügt ihn als „WeChat-Freund“ hinzu und kann ihm von fast überall einen Nachricht hinterlassen, Rückfragen stellen oder ein Foto durchschicken, ohne eine lästige E-Mailadresse mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Tippfehler, übermitteln.
WeChat löste also in vielen Bereich die herkömmliche Visitenkarte ab, ein wenig vergleichbar mit „unserer“ E-Mailsignatur.