Was Europäer von der chinesischen Gemeinschaftskultur lernen können

Gedanken einer Europäerin zwischen zwei Welten – inspiriert von einem TikTok-Video, das eigentlich ein Gesellschaftskommentar ist

Neulich bin ich über ein TikTok-Video gestolpert (Verlinkung ein bisschen weiter unten), das mehr über Kultur verrät als manch soziologische Studie:
Eine Gruppe Essenslieferanten, im Stress des Abendgeschäfts, sieht, dass die Restaurantbesitzerin mit ihrem kleinen Kind in der Arbeit ist. Ohne großes Zögern übernehmen sie abwechselnd die Kinderbetreuung – zwischen Bestellungen, Helmen und Handybenachrichtigungen.

Kein Hashtag, kein Pathos, kein „Social Experiment“.
Einfach gelebte Menschlichkeit in Helm und Regenjacke.

Ich saß da, sah mir das an – und dachte:
Das ist China.
Nicht das China der Schlagzeilen, sondern das China des Alltags,
in dem Gemeinschaft kein politisches Konzept ist, sondern ein Reflex.


Wir Europäer sind stolz auf unser Ich.
Wir feiern es, pflegen es, optimieren es.
In China hingegen existiert ein anderes Grundprinzip – nennen wir es: Wir first, Ich second.

Das klingt für westliche Ohren nach Selbstaufgabe.
Ist es aber nicht.
Es ist eine andere Art, Mensch zu sein.
Eine, die nicht fragt: „Was bekomme ich?“,
sondern: „Was braucht es gerade?“

Das TikTok-Video ist in seiner Schlichtheit fast philosophisch.
Fünf Männer, die sich wortlos koordinieren, ohne Dienstplan, ohne Absprache –
und dabei eine der ältesten Wahrheiten des Lebens bestätigen:
Gemeinschaft funktioniert nur, wenn niemand sie plant.


@saysdotcom

A group of food delivery riders became unlikely babysitters, taking turns looking after a restaurant owner’s child during a peak period. this is so wholesommeeee frrr Read the full story at www.says.com!

♬ original sound – SpongeBob background music

Ich erinnere mich an Freunde in Qingdao, deren Eltern nur zwei Häuser weiter wohnten.
Man isst zusammen, man streitet zusammen, man lebt zusammen.
Nicht aus Abhängigkeit, sondern aus Gewohnheit.

In Wien hingegen frage ich mich manchmal, ob meine Nachbarn überhaupt wissen, dass ich existiere.
Wir teilen uns zwar das WLAN, aber keine Geschichten.

China erinnert mich daran, dass Nähe nicht immer laut ist, sondern oft einfach nur anwesend.
Wie die Lieferfahrer im Video.


Es gibt ein chinesisches Wort, das ich liebe: 和谐 (héxié) – Harmonie.
Nicht zu verwechseln mit Einigkeit, das ist etwas anderes.
Harmonie meint Gleichgewicht, Rücksicht, soziale Temperaturkontrolle.

Während wir Europäer uns rhetorisch erhitzen, kühlt man in China lieber elegant ab.
Man verliert nicht das Gesicht, man wahrt es – für sich und den anderen.

Das TikTok-Video ist im Grunde ein Lehrstück in héxié:
Niemand redet, niemand kommandiert, niemand klatscht Beifall.
Man hilft einfach.
Und das ist vielleicht die höchste Form der Zivilisation.

Wenn ich nach Wien zurückkomme, merke ich, wie schnell der westliche Rhythmus mich wieder einholt: Termine, E-Mails, Effizienz.
Und doch begleitet mich etwas von China – ein anderes Gefühl von Nähe, von Zugehörigkeit.

Natürlich spüre ich auch dort, wie sehr sich die Gesellschaft verändert.
Das alte „Wir“ steht heute unter Druck: Junge Menschen ziehen in Großstädte, leben allein, jagen Karrieren, scrollen durch dieselben Social-Media-Feeds wie wir.
Der Gemeinschaftsgeist ist nicht verschwunden – aber er wird neu verhandelt.

Was mich fasziniert: Trotz dieses Wandels bleibt der Impuls, verbunden zu bleiben, lebendig.
Ob in Familiengruppen auf WeChat, in Nachbarschaftsnetzwerken oder einfach in der Art, wie man füreinander sorgt – man spürt, dass das „Wir“ in China noch immer Kraft hat, selbst in einer Welt, die immer schneller auseinanderdriftet.

Vielleicht liegt genau darin die Lektion:
Dass Gemeinschaft kein starres System ist, sondern ein lebendiges Prinzip –
eines, das sich anpasst, ohne zu verschwinden.

Ich glaube, wir Europäer könnten viel gewinnen, wenn wir lernen, uns wieder gegenseitig zu brauchen.
Nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke.